Eltern mit elterlicher Sorge haben das Recht und die Pflicht, die für das Wohl des minderjährigen Kindes wichtigen Entscheidungen zu treffen. Haben beide Eltern die elterliche Sorge, was heutzutage der Regelfall ist, müssen sie solche Entscheide gemeinsam treffen.
Die Frage, ob ein Kind geimpft werden soll oder nicht, gehört zu den Entscheidungen, die die sorgeberechtigten Eltern zu treffen haben. Wenn beide Eltern jedoch unterschiedliche Ansichten darüber haben und sich nicht einigen können, entsteht eine Pattsituation. Keiner der Eltern hat von Gesetzes wegen den Stichentscheid. Es stellt sich dann die Frage, wer an ihrer Stelle entscheidet.
Das Bundesgericht äusserte sich dazu in einem Entscheid vom 16. Juni 2020 (publiziert als BGE 146 III 313):
Zwei sich in Scheidung befindliche Eltern konnten sich nicht darüber einigen, ob die gemeinsamen Kinder gegen Masern geimpft werden sollen. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die dabei entstehende Pattsituation das Wohl der Kinder gefährde. In einer solchen Situation habe die zuständige Behörde im Rahmen von Kindesschutzmassnahmen darüber zu entscheiden, ob die Kinder geimpft werden sollen. Je nachdem kann es sich dabei um die Kindesschutzbehörde oder das Gericht handeln.
Für ihren Entscheid hat die zuständige Behörde gemäss Bundesgericht "in pflichtgemässer Ausübung ihres Ermessens alle für die Beurteilung wesentlichen Elemente in Betracht zu ziehen". Da es sich um einen Ermessensentscheid handelt, würde dies grundsätzlich nicht bedeuten, dass die zuständige Behörde automatisch zugunsten einer Impfung entscheiden müsste. Empfiehlt allerdings das "BAG als fachkompetente eidgenössische Behörde" die Durchführung der Masernimpfung, so soll diese Empfehlung gemäss Bundesgericht für den Entscheid der zuständigen Behörde "Richtschnur" sein (E. 6.2.6.). Eine Abweichung davon sei nur dort am Platz, meint das Bundesgericht, wo sich die Masernimpfung aufgrund der besonderen Umstände des konkreten Falles nicht mit dem Kindeswohl verträgt. Im konkreten Fall befand es, dass entgegen der Beurteilung der Vorinstanz die behördliche Anordnung der Massenimpfung als Kindesschutzmassnahme grundsätzlich «angezeigt» sei.
Lic. iur. Manuel Duss, Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Familienrecht, Zürich