Gemäss diesem noch aus dem früheren Scheidungsrecht stammenden Grundsatz galt bei langjährigen, lebensprägenden Ehen die Vermutung, dass einem Ehegatten, der während der Ehe nicht erwerbstätig gewesen war, ein (Wieder-)einstieg ins Erwerbsleben nicht mehr zumutbar war, wenn er bei der Trennung der Ehegatten das 45. Altersjahr vollendet hatte. Dies hatte zur Konsequenz, dass der andere Ehegatte, in der Regel der Ehemann, für den Unterhalt des nicht erwerbstätig gewesenen Ehegatten, in der Regel die Ehefrau, nach der Scheidung aufzukommen hatte und zwar bis zur Pensionierung, zum Teil darüber hinaus. Die Altersschwelle von 45 Jahren wurde mit der Zeit in der kantonalen Gerichtspraxis bis zum Alter 50 ausgedehnt.
In seinem jüngst auf der Webseite des Bundesgerichts aufgeschalteten und zur Publikation vorgesehenen Urteil vom 2. Februar 2021 (5A_104/2018) kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die „45-Regel“ ihren Richtliniencharakter verloren hat und nicht mehr zeitgemäss ist. Künftig soll für die Frage, ob ein Wiedereinstieg ins Erwerbsleben zumutbar ist, nicht mehr ein abstrakter Grundsatz massgeblich sein, sondern allein die vom Gesetz vorgesehene konkrete Prüfung anhand verschiedener Kriterien (Alter, Gesundheit, sprachliche Kenntnisse, bisherige und künftige Aus- und Weiterbildungen, bisherige Tätigkeiten, persönliche und geographische Flexibilität, Lage auf dem Arbeitsmarkt usw.). Damit scheint das Bundesgericht nun mehr auf die Machbarkeit bzw. die Möglichkeit eines Wiedereinstiegs abstellen zu wollen, als auf eine Zumutbarkeit.
Das Bundesgericht betont in diesem Entscheid namentlich auch den Vorrang der Eigenversorgung und die nur in zweiter Linie in Frage kommende nacheheliche Unterhaltspflicht der Ehegatten. Daraus folgert es als Regel u.a. eine zeitliche Befristung der nachehelichen Unterhaltsrente und verweist in diesem Zusammenhang auf einen anderen, erst kürzlich ergangenen Entscheid (Urteil des Bundesgerichts vom 3. November 2020, 5A_907/2018, E. 3.4.5., zur Publikation vorgesehen).
Mit dieser Rechtsprechung des Bundesgerichts ist der nacheheliche Unterhalt keineswegs „vom Tisch“. Die kantonalen Gerichte werden aber in Zukunft genau zu prüfen haben, ob anhand der konkreten Umstände nachehelicher Unterhalt noch erforderlich bzw. gerechtfertigt ist und wenn ja, für wie lange. Ein Abstellen auf abstrakte Richtlinien dürfte vom Bundesgericht nicht (mehr) akzeptiert werden.
Lic. iur. Manuel Duss, Fachanwalt SAV Familienrecht, Zürich